Virtuelle Meetings optimieren: Wie adaptive Technologien die digitale Zusammenarbeit revolutionieren

Die unsichtbare Belastung digitaler Meetings

Nach vier Jahren Pandemie und hybridem Arbeiten sind virtuelle Meetings aus unserem Alltag nicht mehr wegzudenken. Doch was anfangs als praktische Lösung gefeiert wurde, entpuppt sich zunehmend als Quelle von Stress und Erschöpfung. Dr. Julia Seitz vom KIT erforscht, wie adaptive Technologien uns dabei helfen können, virtuelle Zusammenarbeit weniger anstrengend und angenehmer zu gestalten.

Ihre Forschung am Institut für Wirtschaftsinformatik im Human Centered Systems Lab kombiniert gestaltungsorientierte Forschung mit Biosignaldaten, um zu verstehen, wie sich Videomeetings physiologisch auf uns auswirken – und was wir dagegen tun können.

Von der persönlichen Erfahrung zur Wissenschaft

“Durch die Corona-Pandemie kamen immer mehr virtuelle Vorlesungen auf einen zu”, beschreibt Dr. Seitz ihren Forschungsweg. Was als persönliche Beobachtung begann – dass virtuelle Zusammenarbeit “anders” ist als Präsenztermine – wurde zur wissenschaftlichen Fragestellung:

“Ich habe gemerkt, dass es schon anders ist, als wenn man vor Ort zusammenarbeitet und andere Teamdynamiken da sind. Aber ich hab nicht so ganz verstanden, woher das kommt.”

Interdisziplinäre Forschungsmethoden: Von Workshops bis Biosignale

Der methodische Mix macht’s

Dr. Seitz’ Forschung kombiniert verschiedene Ansätze:

  1. Gestaltungsorientierte Forschung: Workshops, Interviews und Fokusgruppen zur Identifikation von Nutzerproblemen
  2. Literaturrecherche: Was sagt die Theorie über kognitive Belastung und Aufmerksamkeit?
  3. Prototyping: Entwicklung adaptiver Systeme basierend auf Nutzerfeedback
  4. Experimentelle Evaluation: Qualitative und quantitative Datensammlung im Labor

Biosignale verraten mehr als Umfragen

Was macht die Forschung besonders:Zusätzlich zu klassischen Befragungen werden physiologische Daten erhoben:

  • Herzrate und Herzratenvariabilität: Indikatoren für Stress und kognitive Belastung
  • Blickdaten (Eye-Tracking): Wo schauen Teilnehmer hin? Worauf konzentrieren sie sich?
  • Hautleitwerte: Weitere Stress-Indikatoren

“Wir haben zwei Systeme, die zusammenarbeiten: das sympathische und das parasympathische System”, erklärt Dr. Seitz. Das eine aktiviert uns in stressigen Situationen (Fight-or-Flight), das andere sorgt für Entspannung.

Die Wissenschaft hinter der Meeting-Müdigkeit

Zusätzliche visuelle Belastung

Warum sind virtuelle Meetings anstrengender?Dr. Seitz identifiziert mehrere Faktoren:

Neue Belastungsfaktoren:

  • Selbstansicht: “Dass man sich selbst sieht – da gibt es Studien zu, dass das die kognitive Belastung erhöhen kann”
  • Videofeed als zusätzliches visuelles Element
  • Einfacheres Multitasking: Nebenbei E-Mails schreiben oder recherchieren

Fehlende Signale kompensieren

Gleichzeitig fehlen wichtige Informationen:

  • Kein direkter Blickkontakt erschwert die Kommunikation
  • Sprecherwechsel sind schwerer zu koordinieren
  • Nonverbale Signale gehen verloren

“Das kann dazu führen, dass wir uns mehr darauf fokussieren müssen, wer spricht denn jetzt als nächstes, und das anderweitig herausfinden müssen.”

Wo schauen wir eigentlich hin?

Überraschende Eye-Tracking-Ergebnisse

In einer KIT-Studie mit geteilten Bildschirmen zeigte sich:

  • Hauptfokus liegt auf dem geteilten Inhalt (wie erwartet)
  • Zweitgrößte Aufmerksamkeit gilt anderen Teilnehmern
  • 10-15% der Zeit schauen manche auf sich selbst – selbst bei kleiner Selbstansicht

“Das kann sein, wenn man gerne diese Kontrolle über das Bild hat, es kann aber auch ablenkend sein.”

Praktische Tipps für bessere Meetings

Wann Präsenz, wann digital?

Dr. Seitz gibt konkrete Empfehlungen:

Besser in Präsenz:

  • Teambuilding und Kennenlernen: “Alles was Teamgefühl entwickeln soll”
  • Brainstorming-Sessions: Hohe Interaktivität erforderlich
  • Konfliktgespräche: “Wo man unterschiedliche Perspektiven gegenüberstellen möchte”
  • Neue Kollegen vorstellen: Ganzheitlicher Eindruck wichtig

Funktioniert gut digital:

  • Status-Updates: “Daily Stand-up Meetings”
  • Informative Meetings: Quartalsberichte, neue Kampagnen
  • Routine-Termine: Wenig Interaktion erforderlich

Meeting-Etikette optimieren

Was Dr. Seitz empfiehlt:

  • Kamera anmachen: Besonders in kleinen Meetings wichtig
  • Kommunikation: “Wenn ich die Kamera ausmache, sollte ich das kommunizieren”
  • Hintergrund professionell halten: Vermeidet Ablenkung
  • Multitasking begrenzen: E-Mails schreiben während des Meetings nervt andere

Was besonders stört:

  • Lange Monologe ohne Unterbrechungsmöglichkeit
  • Ständig stumm geschaltet sein und dann vergessen, das Mikro anzumachen
  • Nebentätigkeiten: E-Mails schreiben, während andere sprechen

Technische Verbesserungen und Zukunftsvision

Der Wunsch nach intelligenter Integration

Dr. Seitz’ Wunschfeature:Automatisierte To-Do-Listen aus Meeting-Inhalten

“Nach dem Meeting nicht nur eine automatisierte Zusammenfassung zu haben, sondern dass das direkt in eine Art To-Do-Liste mit Deadline und Verantwortlichkeit übertragen wird.”

Die Vision geht weiter:KI-Assistenten, die während des Meetings aktiv unterstützen

  • “Schreib der Person mal schnell das…” per Sprachbefehl
  • Automatisches Verlinken ohne Browser-Recherche
  • Intelligente Aufgabenverteilung in Echtzeit

Design-Prinzipien für weniger Belastung

Bereits verfügbare Verbesserungen:

  • Selbstansicht anpassen: Verkleinern oder ganz ausblenden
  • Logische Elementanordnung: Wichtige Inhalte zentral platzieren
  • Visuelle Klarheit: Weniger ablenkende Elemente im Interface

Die Grenzen virtueller Zusammenarbeit verstehen

Nicht alles ist messbar

Dr. Seitz betont die Grenzen ihrer Forschung:Laborbedingungen sind nicht der Alltag

“Das ist nicht unbedingt komplett übertragbar auf ein sehr langweiliges Meeting, wo eine Person was vorstellt, was einen selber nicht interessiert.”

Die Komplexität menschlicher Interaktion lässt sich nicht vollständig in Biosignalen erfassen. Kulturelle Unterschiede, Persönlichkeitstypen und Unternehmenskulturen spielen eine entscheidende Rolle.

Die Rolle der Meeting-Kultur

Erfolgreiche virtuelle Zusammenarbeit braucht mehr als bessere Technik:

  • Bewusste Entscheidung zwischen Präsenz und digital
  • Training in digitaler Kommunikation
  • Angepasste Meeting-Formate je nach Zweck
  • Regelmäßige Reflexion über Meeting-Effektivität

Ausblick: Adaptive Technologien als Lösung

Personalisierte Meeting-Systeme

Die Forschung geht weiter:Nachfolgeprojekte entwickeln personalisierte Systeme, die auf individuelle Belastungsmuster reagieren:

  • Automatische Erkennung von Stress und Überforderung
  • Situative Interventionen bei problematischen Meeting-Situationen
  • Angepasste Interfaces je nach Nutzertyp und Kontext

Von der Forschung zur Praxis

Dr. Seitz’ Arbeit zeigt:Bessere virtuelle Zusammenarbeit ist möglich – durch das Verständnis physiologischer und psychologischer Prozesse und deren technische Umsetzung.

Die Vision:Meeting-Systeme, die uns nicht erschöpfen, sondern dabei helfen, produktiv und angenehm zusammenzuarbeiten.

Fazit: Virtuelle Meetings bewusst gestalten

Virtuelle Meetings sind gekommen, um zu bleiben.Dr. Seitz’ Forschung zeigt, dass wir ihre Belastung verstehen und reduzieren können – durch bewusstes Design, angepasste Nutzung und intelligente Technologien.

Die wichtigsten Erkenntnisse:

  • Kognitive Belastung in virtuellen Meetings ist real und messbar
  • Bewusste Entscheidung zwischen Präsenz und digital je nach Meeting-Zweck
  • Technische Anpassungen können Belastung reduzieren
  • Meeting-Etikette ist entscheidend für die Qualität
  • Adaptive Technologien werden die Zukunft der digitalen Zusammenarbeit prägen

Statt virtuelle Meetings zu erdulden, können wir lernen, sie optimal zu gestalten – für produktivere, angenehmere und menschlichere digitale Zusammenarbeit.

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