Rabbit Holes: Wenn der Algorithmus zum digitalen Hasenbau wird

Das Campus Radio entdeckt die Tiefen des Internets

“Sammelfiguren, Wikipedia-Artikel und muskulöse Zumba-Tänzerinnen” – was zunächst wie eine zufällige Aufzählung klingt, verbindet ein gemeinsames Phänomen: Rabbit Holes, die unendlichen digitalen Hasenlöcher des Internets. Das Campus Radio Karlsruhe ging dieser Frage auf den Grund und entdeckte dabei faszinierende Parallelen zwischen Alice im Wunderland und unserer modernen Aufmerksamkeitsökonomie.

Der Begriff “Rabbit Hole” stammt aus Lewis Carrolls “Alice im Wunderland” von 1865 und beschreibt ursprünglich Alice’ Abtauchen in eine andere Welt. Heute nutzen wir ihn für das endlose Klicken von einem Inhalt zum nächsten, bis wir uns plötzlich in völlig unerwarteten Ecken des Internets wiederfinden.

Wo wir am liebsten verschwinden: Die Plattform-Safari

TikTok vs. Wikipedia: Verschiedene Welten, gleiche Sucht

Die Wahl der Plattform bestimmt die Art des Rabbit Holes. Während eine Teilnehmerin erzählt, dass sie “teilweise meine Freizeit auf TikTok verplemper”, schwört ein anderer auf Wikipedia als “Abendunterhaltung”:

“Ich such gerne einfach so random irgendwie einen Begriff und dann klick ich mich durch alle Links die da sind und dann hab ich keine Ahnung – vom Großen ins Mini-Kleinste und ende dann so bei, keine Ahnung, irgendeinem Bibelvers und dann auf einmal zu irgendeiner Person.”

Besonders entspannend: Wikipedia-Artikel als Einschlafpodcast. Der Schokolade-Artikel und sogar Linux-Dokumentationen helfen beim Einschlafen – “das ist überhaupt nicht spannend”, bestätigt ein Informatik-Student.

Instagram: Das Suchtpotenzial erkannt

TikTok wurde bewusst verbannt:“Weil ich da das Suchtpotenzial gesehen hab”, erzählt eine Teilnehmerin. Doch Instagram ist inzwischen “genauso schlimm” – mit anderthalb Stunden Tageskonsum an einem einzigen Tag.

Das klassische Szenario: Wochenendmorgen, der Partner schläft noch, die perfekte Zeit für ein digitales Rabbit Hole. Meist startet es auf Instagram, bis der Wunsch nach mehr Videos zum Wechsel auf TikTok führt.

Wenn Essen zur Beruhigung wird: Mukbang und ASMR

Die unerwartete Entspannung beim Zuschauen

Ein faszinierendes Phänomen: Videos von Menschen beim Essen als beruhigende Abendunterhaltung. “Ich mag es am meisten, wenn das eine hohe Qualität an Essgeräuschen hat, weil ich das beruhigend find”, erklärt eine Teilnehmerin ihre Vorliebe für Mukbang-Videos.

Die Psychologie dahinter: Menschen beim natürlichen Körpervorgang des Essens zuzuhören, wirkt beruhigend – ähnlich wie ASMR (Autonomous Sensory Meridian Response).

Die dunkle Seite: Lebensmittelverschwendung und Überfluss

Doch es gibt problematische Aspekte: Viele Videos zeigen Menschen, die extrem große Mengen essen, oft als Content-Strategie für mehr Klicks. Das Resultat: “Viel Sport machen, um das auszugleichen” und eine “komische Sache” bezüglich unseres gesellschaftlichen Umgangs mit Essen.

Der fließende Übergang: Von harmlosen Mukbang-Videos zu “Feeder”-Content, wo Menschen sich gegenseitig “überfüttern” – oft mit fetischistischem Hintergrund.

Die Algorithmus-Falle: Wenn Zufall zur Gewohnheit wird

Zwei Accounts, zwei Welten

Intelligente Nutzer teilen ihre digitalen Identitäten auf: Ein politischer Account vs. ein “For-Fun-Account”. Das Ergebnis: “Völlig unterschiedliche Welten” auf derselben Plattform.

Der politische Feed: Krieg im Nahen Osten, schwer erträgliche Inhalte Der Spaß-Feed: Muskulöse Zumba-Tänzerinnen aus Brasilien, entspannende Inhalte

Von Cyberpunk-Wohnungen zu bewussten Entscheidungen

Der Algorithmus als Türöffner: Erst schlägt er “schöne Cyberpunk-Wohnungen mit Neonfarben im Regen” vor, dann entwickelt sich daraus ein bewusstes Rabbit Hole.

“Am Anfang wird einem ja irgendwas angeboten, was man irgendwie gut fand […] das triggert aber ja mein Rabbit Hole.”

Die Psychologie der Spezialisierung

Von Unboxing zur Community-Radikalisierung

Unboxing-Videos – das Auspacken neuer Gegenstände – haben sich zu riesigen Communities entwickelt. Von Millionen von Teilnehmenden bis hin zu hochspezialisierten Nischen: Kamera-Unboxings für Fotografen, iPhone-Unboxings für Tech-Enthusiasten.

Diese “Radikalisierung” spiegelt gesellschaftliche Trends wider: Die fortschreitende Individualisierung und Spezialisierung, ähnlich wie in der Wissenschaft.

Battle Rap und Transfermarkt: Wenn das Gehirn entspannen will

Nach anstrengenden Arbeitstagen sucht das Gehirn “das absolut Primitivste”: Battle Rap und Fußball-Transfermarkt werden zur Entspannung – obwohl “ich eigentlich nie Fußball schaue”.

Die Entwicklung: Von Philosophie-Podcasts und Hörbüchern zu simpelsten Unterhaltungsformaten, wenn das “Gehirn komplett geplättet” ist.

Rabbit Hole vs. Algorithmus: Die Abgrenzung

Bewusste Entscheidung macht den Unterschied

Wann wird Algorithmus-Konsum zum Rabbit Hole?

  1. Bewusste Entscheidung: “Jetzt hab ich Zeit und mich beruhigt das irgendwie”
  2. Zeitliche Intensität: Länger als normales Scrollen
  3. Erinnerungswert: “Wenn man sich wieder dran erinnert” bei schnelllebigen Plattformen
  4. Recherche-Antrieb: “Wenn ich dann irgendwas reingespielt bekomme, wo ich mir denke, hmm, irgendwie bin ich dazu bisschen recherchieren”

Die Formel:Algorithmus → Interesse → bewusste Vertiefung = Rabbit Hole

Empfehlungen aus der digitalen Unterwelt

Der Spezi-Krieg: Ein deutsches Drama

Absoluter Geheimtipp: Der “Spezi-Krieg” zwischen verschiedenen deutschen Getränkeherstellern. Seit den 1800ern tobt dieser Streit um das “richtige” Spezi – mit mehreren Firmen, verworrenen Eigentumsrechten und überraschenden Wendungen.

“Kann ich auf jeden Fall jedem sehr ans Herz legen da mal reinzutauchen und herauszufinden, was jetzt die richtige Spezi eigentlich ist.”

Splitterfasernackt: Nacktheit als Podcast-Format

Ein ungewöhnlicher Podcast-Tipp: “Splitterfasernackt” – zwei Frauen, die sich völlig nackt in eine stillgelegte Berliner Sauna setzen und über “Gott und die Welt” sprechen.

Das Besondere: Die Nacktheit verändert die Gesprächsqualität merklich – “total anders als sowas wie Gemischtes Hack” oder “das übliche Gelabere”.

Oldschool-Nostalgie: Domian als Rabbit Hole

Für Nostalgiker: Die legendäre Domian-Sendung – nächtliche Telefonate mit Menschen und ihren Geschichten. Ein Rabbit Hole aus der analogen Zeit, das heute digital nachgehört werden kann.

Die Soziologie der Rabbit Holes

Vereinzelung in der vernetzten Welt

Rabbit Holes spiegeln gesellschaftliche Entwicklungen wider:

  • Fortschreitende Individualisierung durch immer speziellere Nischen
  • Vereinzelung trotz Vernetzung in personalisierten Filterblasen
  • Passive Konsumhaltung statt aktiver Informationssuche

Die neue Art der Gemeinschaft

Paradox: Während wir uns in immer kleinere Interessensnischen verteilen, entstehen globale Communities um die absurdesten Themen – von Unboxing-Videos bis Cyberpunk-Ästhetik.

Rabbit Holes als digitale Selbstfürsorge

Entspannung in chaotischen Zeiten

Rabbit Holes dienen oft der Entspannung: Nach stressigen Arbeitstagen, als morgendlicher Übergang vom Schlaf in den Tag, oder als bewusste Auszeit vom produktiven Leben.

Die verschiedenen Funktionen:

  • Beruhigung: ASMR-artige Mukbang-Videos, entspannende Ästhetik
  • Eskapismus: Eintauchen in völlig andere Welten
  • Nostalgie: Oldschool-Formate wie Domian
  • Lernen: Wikipedia-Safaris und Spezialwissen

Die Zeitkomponente: Wochenenden und Übergänge

Rabbit Holes haben ihre eigenen Zeiten: Wochenendmorgen, Abende nach der Arbeit, Momente zwischen Produktivität und Entspannung.

“Das ist die Zeit, in der ich tendenziell noch nicht wach genug bin, um produktiv zu sein, aber wach genug bin, dass ich die nächsten 2 Stunden Zeit hab.”

Fazit: Alice im digitalen Wunderland

Rabbit Holes sind mehr als nur Zeitverschwendung – sie sind digitale Entspannungsrituale, Lernmöglichkeiten und Verbindungen zu globalen Communities. Von Wikipedia-Safaris über Mukbang-ASMR bis zu Spezi-Recherchen bieten sie Auszeiten von der Produktivitätsgesellschaft.

Die Kunst liegt in der bewussten Entscheidung: Wann lassen wir uns passiv vom Algorithmus führen, und wann tauchen wir aktiv in interessante Welten ein?

Wie Alice vor 160 Jahren fallen wir in digitale Hasenlöcher – und entdecken dabei oft überraschende, beruhigende oder lehrreiche Ecken des Internets. Der Unterschied: Wir können jederzeit wieder auftauchen. Die Frage ist nur, ob wir das auch wollen.

 

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