Das Nadelöhr zwischen Wissenschaft und Gesellschaft – Warum Forschung immer seltener durchdringt

Wie findet Wissenschaft heute noch Gehör in einer Welt aus Social Media, Fake News und Informationsflut? Forschende am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) untersuchen, warum wissenschaftliche Erkenntnisse immer seltener die breite Öffentlichkeit erreichen – und was sich ändern muss.

Leben wir wirklich in einer Wissensgesellschaft?

Wir sprechen gerne von der „Wissensgesellschaft“. Technologien prägen unser Leben, politische Entscheidungen stützen sich zunehmend auf wissenschaftliche Fakten. Und doch: Die Stimme der Wissenschaft wird leiser.

Fake News, Verschwörungsmythen und ein schrumpfender Qualitätsjournalismus engen den Informationsfluss ein. Das „Nadelöhr zwischen Wissenschaft und Gesellschaft“ wird enger – so lautet das Fazit des Public Science Monitoring am Karlsruher Institut für Technologie (KIT).

„Die Öffentlichkeit kann die Fülle an neuen Studien gar nicht mehr verarbeiten – nicht einmal das Wissenschaftssystem selbst“, erklärt Professor Markus Lehmkuhl, Leiter des Lehrstuhls Wissenschaftskommunikation in digitalen Medien am KIT.

Wenn Wissen zu komplex für die Öffentlichkeit wird

Die Zahl wissenschaftlicher Veröffentlichungen wächst exponentiell:
Rund vier Millionen neue Studien erscheinen weltweit jedes Jahr – das sind mehr als 11.000 pro Tag.

Mit der Masse wächst aber auch die Spezialisierung. Forschungsergebnisse werden immer kleinteiliger, die Zusammenhänge schwieriger zu erklären.

Früher reichte ein einzelnes spektakuläres Studienergebnis, um Schlagzeilen zu machen. Heute ist es kaum noch möglich, komplexe Forschungsprozesse in einfache Botschaften zu übersetzen, ohne den Inhalt zu verzerren.

„Es gibt praktisch kein einzelnes Studienergebnis mehr, das für sich genommen öffentlich relevant ist“, so Lehmkuhl.

Der Journalismus als Filter – und als Engpass

Parallel dazu schrumpft die journalistische Öffentlichkeit: Zeitungen werden dünner, Redaktionen kleiner. Seit der Jahrtausendwende hat sich die Zahl wissenschaftsbezogener Artikel halbiert.

Das Ergebnis: Ein immer kleineres journalistisches Fenster trifft auf eine immer größere Wissensproduktion.

Lehmkuhl spricht von einem systemischen Missverhältnis:
Die Wissenschaft produziert mehr Wissen als die Gesellschaft aufnehmen kann – und der Journalismus hat immer weniger Ressourcen, um diese Erkenntnisse zu vermitteln.

Was wir von den Klimawissenschaften lernen können

Ein positives Beispiel liefert der Weltklimarat (IPCC).
Hier haben Forschende weltweit eine gemeinsame Struktur geschaffen, um komplexe Erkenntnisse gebündelt und verständlich zu kommunizieren.

„Die Klimawissenschaften zeigen, wie Wissenschaft mit einer Stimme sprechen kann“, sagt Lehmkuhl.
„Solche Meta-Strukturen fehlen in vielen anderen Disziplinen.“

Anstatt einzelne Studien zu präsentieren, verdichtet der IPCC das Wissen zu „Knowledge Packages“, die für Politik und Öffentlichkeit relevant sind – ein Modell, das laut Lehmkuhl auch in anderen Forschungsfeldern Schule machen sollte.

Daten zählen statt Meinung: Wie das KIT die Öffentlichkeit vermisst

Das Public Science Monitoring-Projekt am KIT verfolgt einen datenbasierten Ansatz:
Forschende analysieren, wie oft und in welchem Kontext wissenschaftliche Erkenntnisse in journalistischen Medien auftauchen.

Anhand von Stichproben, Big-Data-Auswertungen und digitalen Spuren lässt sich so bestimmen, welche Themen und Stimmen tatsächlich in den Medien vorkommen – und welche untergehen.

Das Ergebnis: Der Anteil von Wissenschaftler*innen in der Berichterstattung ist zwar leicht gestiegen, liegt aber immer noch bei nur rund zehn Prozent. Den Diskurs dominieren weiterhin Politik, Wirtschaft und Interessengruppen.

Prominente Forscher? Fehlanzeige – außer in Krisenzeiten

Wie sichtbar Wissenschaft ist, lässt sich auch an ihren Gesichtern ablesen.
Vor der Corona-Pandemie waren nur wenige Forschende der breiten Bevölkerung bekannt – meist historische Figuren wie Albert Einstein oder Marie Curie.

„Prominente Wissenschaftler unter den Lebenden gibt es praktisch nicht“, so Lehmkuhl. „Covid-19 war eine absolute Ausnahme.“

Während der Pandemie änderte sich das vorübergehend: Virologen, Epidemiologinnen und Datenforscher prägten den öffentlichen Diskurs. Doch nach dem Abklingen der Krise verschwand ihre Sichtbarkeit fast ebenso schnell wieder.

Social Media: Segen und Fluch zugleich

Während der klassische Journalismus Reichweite verliert, verlagern immer mehr Menschen ihre Informationsbeschaffung auf Social Media.
Was dort sichtbar ist, wird jedoch von Algorithmen bestimmt – nicht von journalistischer Relevanz.

„Ich sehe keine Instanz außer dem Journalismus, die eine aufklärerische Öffentlichkeit herstellen kann“, warnt Lehmkuhl.

Private Netzwerke erzeugen Echokammern, in denen Meinungen verstärkt, aber kaum hinterfragt werden.
Wissenschaftliche Kommunikation wird dort schnell verzerrt, verkürzt oder instrumentalisiert.

Warum wir neue Kommunikationsformen brauchen

Die Karlsruher Forschenden fordern daher ein Umdenken:
Wissenschaft müsse neue Formen der Vermittlung entwickeln – jenseits klassischer Pressearbeit.

Ob Podcasts, Visualisierungen, partizipative Formate oder KI-basierte Zusammenfassungen – entscheidend ist, dass wissenschaftliche Erkenntnisse wieder in gesellschaftliche Diskurse eingespeist werden.

„Wissenschaft ist Teil der Gesellschaft“, betont Lehmkuhl.
„Aber sie muss sich aktiv bemühen, auch verstanden zu werden.“

Fazit: Das Wissen wächst – das Verständnis darf nicht schrumpfen

Wissenschaft produziert Erkenntnisse im Rekordtempo. Doch ohne geeignete Kommunikationsstrukturen droht dieses Wissen im Datenmeer zu versinken.

Das KIT zeigt mit dem Projekt Public Science Monitoring, wie wichtig datenbasierte Forschung über die Öffentlichkeit selbst ist. Denn nur wenn Wissenschaft, Journalismus und Gesellschaft gemeinsam neue Wege finden, kann Wissen wieder wirksam werden.

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