Wie gefährlich ist Feinstaub wirklich? – Das Karlsruher Expositionsverfahren ermöglicht realistische Lungenforschung
von Campusradio Karlsruhe · Veröffentlicht · Aktualisiert
Feinstaub gilt heute als einer der größten Umweltkiller Europas: Laut der Europäischen Umweltagentur sterben jedes Jahr rund zehnmal so viele Menschen durch Feinstaubbelastung wie durch Verkehrsunfälle. Die winzigen Partikel dringen tief in die Lunge ein, verursachen Entzündungen, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Krebs – und stammen längst nicht nur aus Autoabgasen.
Ein Drittel der Belastung geht auf die Industrie, ein weiteres Drittel auf Kleinfeuerungsanlagen wie Kaminöfen zurück. Auch neue Materialien wie Carbonfasern, PEFAS oder Funktionskleidung bringen bislang kaum erforschte Risiken mit sich.
Am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) wurde nun ein Verfahren entwickelt, das die Schädigung der Lunge durch Feinstaub unter realistischen Bedingungen untersucht – das sogenannte Karlsruher Expositionsverfahren.
Warum bisherige Tests Feinstaub unterschätzen
Bislang wurde die Wirkung von Feinstaub häufig in Laboren getestet, indem Lungenzellen mit Feinstaubpartikeln in Flüssigkeit benetzt wurden. Doch das Bild ist verfälscht:
„Wir haben ja unsere Lunge nicht unter Wasser stehen“, erklärt Dr. Sonja Mühlhaupt, Leiterin der Arbeitsgruppe Partikelcharakterisierung und Exposition am Institut für Technische Chemie des KIT.
In klassischen Verfahren verändern Salze, Proteine oder chemische Komponenten des Nährmediums die Oberfläche der Partikel – und damit ihre Toxizität. „Das hat dramatische Auswirkungen auf das Ergebnis“, so Mühlhaupt.
Realitätsnahe Tests mit menschlichen Lungenzellen
Das Karlsruher Expositionssystem bringt erstmals echte Aerosole, also in der Luft schwebende Partikel, direkt mit kultivierten menschlichen Lungenzellen in Kontakt – und zwar bei realistischen Temperatur- und Feuchtigkeitsbedingungen.
Dabei können die Forschenden sogar vor Ort an Emissionsquellen messen, etwa in Verbrennungsanlagen. So lassen sich Proben entnehmen, ohne dass die Partikel ihre Struktur verändern.
„Wir simulieren den gesamten Inhalationsprozess“, erklärt Mühlhaupt.
„Vom Nasen-Rachen-Raum über die Bronchien bis in die Lungenbläschen.“
Die Abwehrkräfte der Lunge – und ihre Grenzen
Gelangen Partikel in die Atemwege, setzt das Immunsystem mit sogenannten Makrophagen an – den „Pacmans“ unserer Lunge. Diese Fresszellen umschließen Fremdkörper und transportieren sie über den Rachen wieder aus dem Körper. Doch bei neuen Materialien stößt das System an seine Grenzen:
Carbonfasern, Nanopartikel oder Mikroplastik können tiefer eindringen und länger verweilen. Manche Materialien, etwa Carbon Black aus Reifenabrieb, wirken als „Trojanisches Pferd“ für schädliche Chemikalien.
„Je kleiner die Partikel, desto besorgniserregender“, sagt Mühlhaupt.
Neue Materialien – neue Risiken
Ein Schwerpunkt der Forschung liegt auf Fasern und Mikroplastik. Im Gegensatz zu kugelförmigen Partikeln haben sie eine längliche Struktur, die das Immunsystem überfordert:
„Wenn eine Faser länger ist als eine Makrophage groß, kann die Zelle sie nicht vollständig aufnehmen“, erklärt Mühlhaupt.
„Die Zelle stirbt ab – und löst Entzündungen aus, die zu Fibrose oder Krebs führen können.“
Auch PEFAS und andere langlebige Kunststoffe, die in Outdoor-Kleidung oder Teflonbeschichtungen vorkommen, könnten langfristig in Form von Mikroplastik in die Umwelt und schließlich in unsere Lunge gelangen.
Ein Beitrag zur Reduktion von Tierversuchen
Das Karlsruher Verfahren nutzt in-vitro-Methoden, also Zellkulturen im Labor, statt Tierversuche. In Kombination mit computergestützten Simulationen (in silico) lassen sich reale Belastungsszenarien sicher und ethisch verantwortungsvoll nachbilden.
So wird das KIT seiner Rolle als Pionier in der nachhaltigen Umweltforschung gerecht.
Forschung mit gesellschaftlicher Relevanz
Dr. Mühlhaupt appelliert auch an die Verantwortung jedes Einzelnen:
„Muss ich wirklich jeden Abend den Kaminofen anmachen? Oder reicht es, wenn es draußen wirklich kalt ist? Muss jedes T-Shirt Funktionswäsche sein – oder tut es auch Baumwolle?“
Bewusster Konsum und emissionsarme Technologien können helfen, die Belastung zu verringern. Denn klar ist: Die Luft, die wir atmen, betrifft uns alle.
Fazit
Das Karlsruher Expositionsverfahren ist ein Meilenstein in der Inhalationstoxikologie.
Es erlaubt, die Gefährdung durch Feinstaub, Nanomaterialien und Mikroplastik unter realen Bedingungen zu erfassen – ein entscheidender Schritt für Gesundheits- und Umweltschutz.
Damit liefert das KIT nicht nur wissenschaftliche Erkenntnisse, sondern auch Impulse für eine sauberere Zukunft – und ein tieferes Verständnis davon, wie wir unsere Umwelt gestalten.